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  • Der Film-Club
  • 30 Jahre deutsche Einheit?
  • Kreatives Schreiben: Show, don`t tell
  • Sie oder du – eine Annäherung
Englischer Titel:
The Film Club

Der Film-Club
Ein Buch von 2009 neu gelesen / Anregung nicht nur für Corona-Zeiten
 
Jesse ist 16 und kommt in der Schule nicht weiter. Er lügt, schwänzt, rappt und shoppt, nur was er tun soll, tut er eben nicht. Sein Vater treibt ihn an zum Lernen, denn als Kind dachte er, „es gibt einen Ort, wohin böse Jungs geschickt werden, wenn sie die Schule schmeißen. Dieser Ort befand sich irgendwo am Ende der Welt, so ähnlich wie der berühmte Elefantenfriedhof, nur war er eben voll mit weißen Knöchelchen von kleinen Jungen.“
Drastische Bilder steigen häufig hoch in diesem Buch. Doch Jesse, ansonsten sanft und umgänglich, konzentriert sich nicht – er brummt stattdessen, stellt sein Vater plötzlich fest, während sie am Küchentisch sitzen und gemeinsam lateinische Vokabeln pauken. Dieses Brummen ist Ausdruck von Langeweile, von Langeweile einer ganz besonderen Art: „Es war die physisch spürbare Überzeugung, dass die gestellte Aufgabe absolut irrelevant war.“ Und merkwürdigerweise hat sein Vater das Gefühl, als würde sich das alles in seinem eigenen Körper abspielen.
„Ach, dachte ich, so erlebt er also die Schule. Dagegen kommt keiner an. Und plötzlich – es war so eindeutig wie das Geräusch einer splitternden Fensterscheibe – begriff ich, dass wir den Schulkampf verloren hatten.“
Wir.“ Hier geht es nicht, das lässt sich spüren, um die übliche Eltern-Kind-Geschichte, in der sich Vater oder Mutter durch das Repertoire möglicher Anreize, Bedingungen oder Strafen quält, um Kinder zur Räson zu bringen. Wie viel Identifikation steckt in jedem Elternteil, wie viel Angst vor eigenem Versagen, wie viel Verzweiflung, wenn es aus dem Ruder läuft? David Gilmour, Namensvetter des Pink-Floyd-Gitarristen, seines Zeichens aber Autor aus Toronto, quält sich eher durch die Furchen seiner eigenen Ängste, als sein Sohn die Schule schmeißen will. Und er tut das Unerwartete, er sagt: „Gut.“ Unter einer einzigen Bedingung: keine Drogen und drei Filme jede Woche. – Hä?

„Das ist die einzige Form von Ausbildung, die du bekommst.“

Filme sehen, das macht Jesse nämlich gern. Also gibt es Vater-Sohn- und DVD-Termine. Sie beginnen mit Truffaut, „Sie küssten und sie schlugen ihn“. Jesses Vater, Filmkritiker und Fernsehjournalist, macht seinen Sohn bekannt mit den Details zum Filmdreh, dem Regisseur, zu Improvisation und den gezeigten Emotionen und schließlich auch zu der Geschichte. Er sendet laienhafte therapeutische Impulse durch die Hauptfigur: „Siehst du irgendeine Parallele zwischen seiner Situation und deiner?“ Mit nur mäßigem Erfolg.

Weiter geht`s mit „Basic Instinct“, der Jesses Lebensgeister weckt. Die Filmauswahl ist eher klassisch und tut im Grunde nichts zur Sache. Es sind die Themen wie Talent, Erfolg und Selbstzerstörung, die den Fokus bilden und auf ihre Art zusammenhängen. Doch nicht nur das. Wo ist der „magische Moment“ in einem Film?/Wie bewältigen die Schauspieler_innen ihre Rollen?/Was macht die Kameraführung aus?/Können Filme als Rechtfertigung dienen, für etwas, das man im Leben getan oder nicht getan hat?

Das sind die Fragestellungen, mit denen David seinen Sohn „aus seinen eigenen Gedanken holen“ will. Jeden Film sollte man mehrmals sehen, denn erst beim zweiten Mal entdeckt man die Details. Gleichzeitig provoziert er ihn mit seinem Wissen. Es geht ja um sein eigenes Fachgebiet – es geht wieder also mehr um ihn. Das trägt stark narzisstische Züge und ist ebenso genial: Denn wo sollten sie sich treffen, wenn nicht genau da, wo sie beide so berührbar sind?
 
Doch was er dann vermittelt, das sind seine Strategien, mit dem Leben umzugehen. Mit Herausforderungen, Enttäuschungen und mit fehlendem Erfolg. Dass Jesse sich derweil in eine junge Frau verliebt, die ihm überlegen scheint, das macht ihm – dem Vater – Angst. Deutlich spiegelt sich in seinen Sorgen die Unsicherheit des Sohnes – wie natürlich umgekehrt; deutlich sucht er ihn zu schützen und lässt dabei die Grenze abermals verschwimmen.

A Hard Days` Night – und was jetzt?

Wie mit seinem Schutz, so will er Jesse auch mit seinem Wissen überhäufen. Filme stellen Davids Nomenklatur dar, mit der er den großen Fragen seines Lebens stets begegnet ist, und diesen Schatz will er an Jesse weitergeben. Doch ihre Welten klaffen auseinander: Dass jemand von den Beatles etwa nicht begeistert ist, ja sie sogar belächelt, ist für David schier undenkbar.
Langsam schält es sich heraus, dass David nicht nur seine eigene Enttäuschung in Bezug auf Frauen, seine eigene Schulangst und die Angst vor dem Versagen mit auf Jesse projiziert, sondern dass er selbst im Hier und Jetzt vor nackter Existenzangst steht. Seine Sendung soll nicht mehr verlängert werden, beruflich steht er vor dem Aus. Die Parallelen springen uns nun von der anderen Seite an und die Lage spitzt sich zu. David kommen Schuldgefühle: War es etwa falsch, Jesse zu erlauben, mit der Schule aufzuhören? Ihn zu ermuntern, „nichts“ zu tun? Der Vater selbst nimmt zu sehr kindlichem Verhalten Zuflucht.

So hatte er auch manches Mal andere hemmungslos beschimpft, denn trotz der Bildung und der Wärme gegenüber seinem Sohn neigt er zu stark vereinfachender Weltsicht. Gerne ist er mit Verurteilungen zur Hand: „Versager“, „unattraktive Menschen“, ja selbst „Arschloch“ heißt es da, wenn er über Filme und auch über manche Menschen spricht. An dieser Stelle richtet er, nun ganz voller Schuldgefühle, diese Worte an sich selbst.

Schlaflos in Toronto

„Ich ging betrunken ins Bett, wachte um vier Uhr morgens auf, weil ich pinkeln musste; als ich die Spülung drückte, rutschte mir die Uhr vom Handgelenk und wirbelte den Abfluss hinunter. Ich setzte mich auf den Klositz und weinte leise. Da hatte ich Jesse erlaubt, die Schule abzubrechen, ich hatte versprochen, mich um ihn zu kümmern, und jetzt stellte sich heraus, dass ich mich nicht mal um mich selbst kümmern konnte. Ein Blender, ein Versager, genau wie Claire Brinkmans Vater.“
Ist dies alles also eher eine Therapie für ihn?
Spätestens an dieser Stelle zieht mich der Text in sich hinein. David hatte sich zum Retter aufgeschwungen und seine blinden Flecke dadurch überdeckt. So ist er letztlich selber konfrontiert – genau wie Jesse, den er konfrontieren will.
Der Vater spiegelt sich im Sohn; die Filme aber spiegeln in unendlich vielen Varianten alles das, was sie – und uns – bewegt. Und wir sehen: Die Distanz, die in der anderen Person liegt, oder gerade auch im Film, kann Abwehrmechanismen sanft beiseite räumen, die uns ansonsten oft ein Bein stellen. Insofern wirken Filme therapeutisch. Und letztlich ist auch das, was wir den Filmsequenzen für uns selbst entnehmen, ausgesprochen subjektiv. Das wird in vielen Szenen dieses Buches deutlich.
Es geht nicht um die Filme, es geht um uns dabei. So wie man diesem Buch entnimmt: Es geht gar nicht um Jesse, es geht um seinen Vater, der dies schreibt. Und lesen wir dann dieses Buch, geht es wieder nur um uns!

Reifeprüfung

Jesse wird erwachsen und sticht am Ende seinen Vater sogar aus. Er kennt die Klassiker des Films wie seine Westentasche und könnte in die Fußstapfen seines Lehrmeisters treten, ganz ohne Schulabschluss. Doch er geht schließlich dazu über, sein Leben nur mit Tina zu besprechen, Davids Frau, und David zieht sich mehr und mehr zurück. Am Ende macht Jesse, ganz so wie es eben sein soll, nur noch seins – nämlich Musik, und er schreibt Texte voller Schmerz. Texte über das Verlassenwerden, vor dem sein Vater ihn zu schützen suchte. Ganz am Ende holt er dann die Schule nach. Und David, zum Beobachter mutiert, lässt ihn langsam los. Die Abnabelung findet in zwei Richtungen statt.

So ist dieses Buch nicht einfach nur ein Buch über einen Sohn und einen Vater oder über die Beziehung zwischen beiden oder über Filme. Es ist ein Buch über den Prozess der Individuation. Es zeigt, dass wir ein Gegenüber brauchen, in dem wir unsere eigenen Prozesse spiegeln, und dass dies oft Geschichten, Bücher oder Filme sind. Es zeigt, wie hilfreich so ein „Anschub“ ist, und wie sich daraus letztlich immer etwas Eigenes entwickelt.

Indiana Jones und der Tempel der Worte

David Gilmour nennt dieses kleine Stück „memoir“ und gibt darin mehr von sich preis als von seinem Sohn. An anderen Stellen finden wir den Text als „Unterhaltungsliteratur“ gelistet, aber auch „non-fiction“ oder gar „Roman“. Das ist nicht verwunderlich, denn die Theorie ist uneindeutig: Inwiefern unterscheiden sich Werke, die zur Veröffentlichung freigegeben werden, bereits durch ihre Überarbeitung von unmittelbaren Tagebuchaufzeichnungen? Kann das Erzählen über das Erlebte überhaupt frei von fiktiven Elementen sein? Und was ist überhaupt die „Wahrheit“ oder die „Realität“?
Auf jeden Fall hat dieser Autor seinen Stil bewusst gesetzt. David Gilmour verfügt über ein beträchtliches literarisches Talent, und sicher ist er einige Kurven gefahren, die im „wirklichen Leben“ nicht gar so steil gewesen sein mögen wie in dem effektvoll dargestellten Text. „The Film Club“ heißt das Buch im Englischen, und der deutsche Titel ist zwar griffig, aber wohl verfehlt: Schon auf der ersten Seite weiß man, dass es sich um drei und nicht um ein Jahr handelt. Das empfinde ich als ärgerlich, doch genauso ist es ja mit „Literatur“: Sie muss sich auch gut lesen lassen und nimmt Verschiebungen, Verdichtungen und Übertreibungen in Kauf.

Lohn der Angst

Doch hat David Gilmour sich hier selbst entblößt – und das vielleicht noch ganz bewusst? Ist er tatsächlich nicht nur weich und ängstlich, sondern auch oft maßlos arrogant, wie so mancher O-Ton suggeriert, oder passt das nur zu der Figur des Ichs in diesem Text? Und hat ihn der Prozess verändert? Diese Frage kann ich nicht beantworten, auch wenn sie das direkt betrifft, was mich am Schreiben brennend interessiert: Was passiert dadurch mit uns? Ich habe dieses Buch verschlungen, weil es mir so viel Menschliches enthüllt – im Guten wie im Schlechten (sofern dies überhaupt zulässige Unterscheidungen sind). Weil es für mich einen Sog ergibt, spätestens als sich die Erfahrung des Versagens umkehrt. Und weil es zeigt, wie gut sich Bücher und auch Filme eignen, um eigene Erfahrungen zu reflektieren oder auch erst zu erkennen. Am allerliebsten aber mag ich die Idee: Besinn dich auf das, was du gut kannst und was dich wirklich interessiert – sie wird hier ganz konsequent verfolgt. Halt dich nicht fest an Ansprüchen, die von außen kommen, oder die du selbst an dich und andere stellst. Das gilt auch für alle Eltern.
Dieses Buch ist nicht ganz neu. Warum ich es gerade jetzt wieder geleder gelesen habe, ist einer Anregung aus meinem Schreibkurs zu verdanken.
Damit verbunden ist ein Vorschlag: Seht euch Filme wieder mal „gemeinsam“ an. Das kann auch zu Corona-Zeiten heißen, jede_r für sich – und tauscht euch aus. Seht nur bis zur Hälfte oder einzelne Sequenzen und besprecht euch intensiv, bevor ihr weitermacht. Nehmt euch bestimmte Fragestellungen und sucht weitere Filme dann auf dieser Basis aus. Was hat euch fasziniert? Welches Thema wurde angestoßen? Gibt es vielleicht noch andere Filme, die das Thema ebenfalls behandeln?[1]

Oder: Was ist euer Lieblingsfilm? Warum genau? Haltet eine kleine Einführung. Wann ist der Film entstanden und in welchem Kontext? Worauf soll geachtet werden? Diskutiert darüber nach dem Sehen. Ihr werdet vieles über euch erfahren.
Und, sobald es wieder möglich ist: Lasst uns über Bücher und auch Filme diskutieren und sie für uns nutzbar machen.
Ich freue mich auch über Mails von Interessenten an den kleinen Gruppen, die nach den Pandemie-Einschränkungen wieder stattfinden können.
 
[1] Rüdiger und Margit Dahlke geben Tipps dazu in ihrem Buch: „Die Hollywood-Therapie“, allerdings unter ihren ganz eigenen Gesichtspunkten und einer darauf abgestimmten Filmauswahl.


Renate Graßtat, April 2021
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30 Jahre deutsche Einheit?

Die deutsche Einheit – ist das überhaupt ein Thema hier für diesen Blog? Für „Worteinbewegung“?

Ja und nein. Ja, weil die beiden deutschen Staaten, die Wende und ihre Folgen immer wieder Themen in Literatur und Filmen sind – bis heute. Weil sie sogar Spuren in der Sprache hinterlassen haben.

Ja auch, weil ich im Unterricht mit Menschen aus dem Ausland oft gefragt werde, was ich selbst darüber denke. Und: „Was macht man am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit? Ist das so wichtig wie Weihnachten? Gibt es was Besonderes zu essen?“

Ja, weil in der Arbeit mit Biografien von Menschen aus Deutschland sich häufig Elemente zeigen, die ohne diesen Hintergrund nicht denkbar wären – und oft verlangen gerade sie genauere Beachtung.

Und warum nein? Das hat sich damit schon erledigt. Doch wenn das „Nein“ seine Stimme äußern sollte: Nein, weil das alles vielleicht Schnee von gestern ist. Weil der Blick nach vorne so viel wichtiger erscheint. Historiker würden jedoch sagen – und damit hätten sie recht -, dass die Vergangenheit zu unserer Gegenwart geführt hat und diese wiederum die Weichen für die Zukunft stellt.

Doch noch ein Nein meldet sich zu Wort: Weil ich hier, eigentlich, kein politisches Statement abgeben möchte. Es wird sogleich freundlich übertönt von einer alten Weisheit: Alles, was wir tun und denken, ist letzten Endes auch politisch.

Also: Ich selbst bin in West-Berlin geboren. Politisches Bewusstsein erlangte ich zu einer Zeit, als noch die Nachwirkungen der Studenten-Proteste in der Atmosphäre hingen, als Peace-Abzeichen ein Bekenntnis waren und nicht nur cooler Modeschmuck. Wer diese Überzeugung auf die Straße trug, den pöbelten ältere Leute an: „Geh doch rüber!“, riefen sie, hasserfüllt, und manche spuckten. Und natürlich dachte ich: „Wieso rüber? Dann muss es da wohl besser sein …“

Und tatsächlich erschien uns – und damit meine ich eine ganze Reihe junger Menschen voller Empörung gegen die Staatsmacht, die Kriegsgegner und Umweltaktivisten zu Verbrechern stempelte – das Land hinter der Mauer immerhin als eine Alternative, die es zu bedenken galt. Die einzige Alternative jedenfalls, die wir kannten. Und sie machten dort einiges besser.

„Acht Pfennige für eine Schrippe!“, schrie mein Vater aufgebracht. „Weißt du, was die Schrippen drüben kosten? Acht Pfennige! Da kann ja das System nicht funktionieren!“ Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er die Brötchen für zu billig hielt. Und mein nachpubertär sachlich kalkulierender Verstand kam zu folgendem Schluss: Großartige Sache. Da muss niemand mehr verhungern.

Ich war mit einem DDR-Bild aufgewachsen, demzufolge es dort keine Schokolade, keinen Kaffee, ja nicht mal einen eigenen Namen gab: Die „Zone“ hieß das Land bei uns, oder eben einfach „drüben“. Aber, welche Überraschung, „drüben“ musste niemand ohne Wohnung sein, man hatte ein Recht auf Arbeit, die Fahrscheine für die Tram waren nicht mehr als ein Witz. In „Sonnenallee“ wird genau dies in den ersten Szenen angesprochen, in einer Art emanzipatorischem Akt, der das begründete, was später fälschlich „Ostalgie“ hieß: „Leute, es ging uns nicht sooo schlecht!“

Rückten wir die Grundversorgung und den Glauben an die Gleichheit der Menschen in den Vordergrund, wirkte das, was über die Stasi gesagt wurde, ein wenig nebulös dagegen. Wir konnten es auch gar nicht so recht glauben. Damit erging es uns nicht anders als vielen Menschen in der DDR.

Bei einem Ausflug nach Ostberlin kaufte ich ein Buch, in dem die politische und wirtschaftliche Situation, die zur Blockade und dann zum Mauerbau geführt hatte, aus DDR-Sicht sehr plausibel wurde. Letztlich überprüfen konnte ich die Fakten nicht. Aber ich wurde Zeugin eines mittleren Erdbebens, als mein Vater dieses Buch auf dem Wohnzimmertisch vorfand. Und wie bei Heranwachsenden nicht unüblich, führte die heftige emotionale Ablehnung meiner Eltern und Großeltern genau dazu, dass ich die Gegenseite umso mehr verteidigte.

Damit tat ich ihnen Unrecht. Nicht bewusst genug war mir die Wunde, die die Mauer durch die Stadt geschlagen hatte – eine Mauer zwischen alten Freunden, Cousins, Cousinen, Geschwistern, Eltern, Kindern. Nicht bewusst auch die Angst, bei der Blockade durch die Sowjetunion verhungern zu müssen. Ich dagegen war mit einer Mauer aufgewachsen, die ich als selbstverständlich nahm wie die Passkontrolle innerhalb Europas.

Aber diese Situation hat mich Wichtiges gelehrt: Es gibt immer mindestens zwei Seiten, oft sogar viel mehr. Und das Denken unter zwei verschiedenen – oder mehr – Prämissen braucht es, wenn wir nicht zum Herdenvieh verkümmern wollen. In diesem Sinne fehlt sie mir, die DDR – oder vielmehr: fehlt mir die Möglichkeit, etwas von der anderen Seite her zu denken. Denn damit öffnet sich der Horizont. Oder, wie Kaminer zur Ost-West-Debatte schulterzuckend sagte: „Ich komme aus Moskau. Für mich ist Osten Westen.“

Perspektivwechsel werden heutzutage in der Mediation, in interkulturellen Trainings, im therapeutischen Setting, zur Umsetzung innovativer Ideen und auch beim Kreativen Schreiben gerne eingesetzt. Die Politik hat diese Chance verschlafen.

In der DDR grassierte ein selbstironischer Witz, der geradezu genial prophetisch war: „Stimmt denn das, Genosse? Man sagt, der Kapitalismus nähere sich immer mehr einem Abgrund?“ – „Ja nu, freilich stimmt das!“ – „Und dann wollen wir den noch überholen??“

Der letzte Teil hat sich bereits erfüllt. Aber was ist mit dem ersten?

Der Abgrund des Kapitalismus tut sich schon an vielen Stellen auf. Obdachlosigkeit, ein Phänomen, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten erschreckend zugenommen hat, ist nur ein besonders signifikantes Beispiel. Sollten wir einfach damit leben, nur weil wir den Kapitalismus mit all den Freiheiten, die er bietet, in den Vordergrund gerückt haben – so wie viele damals die Nachteile der DDR „übersahen“? Es wäre gut, andere Modelle zu haben. Zu wissen, wie es sich überhaupt nicht-kapitalistisch denken lässt.

30 Jahre deutsche Einheit: Den meisten geht es heute gut damit, und junge Leute sagen wirklich gerne: Schnee von gestern. Unterschiede aber gibt es noch, und zwar nicht im Positiven, nicht im Sinne der gedanklichen Erweiterung.

Stattdessen das Ost-West-Gefälle der Gehälter, Ignoranz gegenüber anderen Lebensweisen, pauschale Ablehnung bestimmter Gebiete im Land – auf beiden Seiten. „Nee, da jeh ick nich hin, dit is ja im Westen/Osten, dit is mir nüscht“, hör ich immer noch von manchen.

Und das ist schade. Wir hatten 40 Jahre lang verschiedene Kulturen, und verschiedene Kulturen, Erfahrungen und Denkstrukturen verdienen überall Respekt: ob es sich um Nationen, Geschlechter, Alte oder Junge handelt – oder auch um Ost und West. Wunderbare Menschen gibt es überall – genauso wie Idioten. Ganz am Ende zählen nur die Einzelnen – eine Binsenweisheit, aber doch so wichtig. In ihre Geschichte aber, die jeweilige, fließt ihr Hintergrund mit ein: Überzeugungen, Kompetenzen, Verletzbarkeit und Glauben, Mängel, Ressourcen und Konflikte – und die Möglichkeit zur Lösung. Viele Möglichkeiten zur Lösung.

Verschiedene Perspektiven, die wir teilen, bilden das größte Angebot zu lernen und zu wachsen. Das wäre für mich ein Weg in die Zukunft, der sich wirklich aus Vergangenheit und Gegenwart ergibt, und eine echte Einheit. Vielleicht kommt sie ja.

Renate Graßtat, 3. Oktober 2020

Zitate sinngemäß, Fotos eigene (erstes), Pixabay und Creative Commons








Kreatives Schreiben: Show, don`t tell

Wie wir Worten Beine machen  – die Nummer eins unter den Regeln

Madame Lelong hievte den klobig-schweren Stuhl auf das Lehrerpult und machte dabei ein fröhliches Gesicht. 25 Augenpaare blickten sie erschrocken an: ein zierliches Persönchen, an die vierzig, eher streng und kontrolliert, immer korrekt und modisch angezogen, nie aber einen Tick zu viel, die Farben meist gedämpft. Was zum Teufel tat sie da?

„La chaise est sur la table“, sagte sie betont und langsam, denn heute waren die Präpositionen dran. Der Stuhl ist auf dem Tisch. Auf den Stuhl legte sie das Buch. „Le livre est sur la chaise.“ Und zu guter Letzt klapperte sie mit ihrem Schlüsselbund und platzierte es, auf den Zehen wippend, auf dem Buch. „Les clés sont sur le livre.“

So rudimentär meine Französischkenntnisse auch heute sind, den Unterschied zwischen „sur“ und „sous“ werde ich nie vergessen. Warum? Weil mich dieses Bild verfolgt. In unserem damals noch so konservativen Unterrichtsgeschehen arbeiteten wir normalerweise nur mit der linken Gehirnhälfte. Wir füllten Lückentexte aus, paukten Grammatik und lasen im Buch, mit verteilten Rollen immerhin, bis es aus den Ohren wieder `rausquoll. Diese forsche Art des Entertainments hier genossen wir wie eine warme Dusche.

Und genau so sollten Texte sein.

Was Madame Lelong damals vorführte, gehört heute zum Grundbaustein jeder pädagogischen Ausbildung. Zu meiner Schulzeit war die Schauspielerei, waren Anschauungsunterricht und Bewegung jedoch eher denen vorbehalten, die besonders charismatisch waren, mal über die Stränge schlugen oder intuitiv einen Zugang zu den Schülerherzen fanden. Sie machten Quatsch, nutzten Bilder, Geschichten oder Rollenspiele – und, mal ehrlich, das ist es doch, woran wir uns später dann erinnern.

Wie übertragen wir dies nun auf einen Text?

Den Grundstein zu „Kreativem Schreiben“ – im heute meistgebrauchten Sinne – legten amerikanische Universitäten gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wollten, dass ihre Student_innen praktische Erfahrungen sammeln konnten und nicht nur lasen, lasen, lasen. „Kreatives Schreiben“ ist im angelsächsischen Sprachraum ein anerkannter Studiengang und bezieht sich auf literarische, auf journalistische Texte und Drehbücher – Texte, die Wirkungen entfalten. Und eine der ersten Regeln, die es dort zu lernen gilt – ja wohl die wichtigste überhaupt, ist: „Show, don`t tell“: Zeigen, nicht erzählen, nicht beschreiben soll man. Genau das, was Madame Lelong eben tat.

Das Thema also auch in meinem Workshop: „Zwischen uns spürte ich eine Vertrautheit“,schreibt eine Teilnehmerin, die ich mit ihrer Erlaubnis hier zitiere. Das ist die Beschreibung („tell“) eines Gefühls. Aber es lässt uns dieses nicht erfahren. Menschen, die kontemplativ veranlagt sind, spüren vielleicht diesem Satz in sich nach. Andere jedoch klappen das Buch nach wenigen Absätzen zu oder klicken den Text einfach weg. Er spricht nicht zu ihren Sinnen.

Wie lässt sich denn „Vertrautheit“ nun beim Lesen zeigen („show“)?

Na zum Beispiel durch: „Er hatte die gleiche Augenfarbe/das gleiche Zucken über dem Augenlid/trug einen Pullover in genau dem gleichen Grün/bewegte sich genauso ungelenk wie ich“ oder: „Unter seinem Arm klemmte tatsächlich der Krimi, den ich auch gerade las.“

„Er setzte sich zu mir und wir betrachteten die Krokusse vor uns auf der kleinen Wiese, ohne zu sprechen.“

„`Hey`, sagte er, und ein warmer Lichtstrahl durchflutete den Raum zwischen uns.“

Man kann sich die Szene förmlich vorstellen. „Show, don`t tell“ ist wie das Medium Film – im Text. Denn Filme zeigen, was sonst Worte nur sagen. Sie führen vor, wie sehr uns Aktivität berührt, wie sie uns „hereinholt“ in die Szene, die wir in Emotionen übersetzen. Wie unmittelbar die Bilder – die übrigens auch das gesprochene Wort zu malen vermag – in uns hineinschnellen.

Auch wenn Regisseure das nicht immer nutzen. „In vielen Filmen, die man heutzutage macht, ist sehr wenig Kino“, sagte einst Alfred Hitchcock. Sie seien eher Fotografien von Leuten, die sich unterhalten.

Und bleiben damit weit hinter den Möglichkeiten des Films und der Bilder zurück: Lebendigkeit, Unmittelbarkeit, Dynamik. So wie wir hinter den Möglichkeiten eines Textes zurückbleiben, wenn wir nur beschreiben.

Video, Kamera, Optik, Fotografie

 „Ich möchte die Verlobung lösen.“ Auch wenn uns dieser Satz in einem Film erschreckt, müssen wir ihn doch erst einmal nachvollziehen. Aha. Keine Hochzeit, kein Lebensglück mit diesem Partner, Eltern enttäuscht, Freunde enttäuscht, Hochzeitsreise abgesagt, alle Vorbereitungen umsonst, auch die Hoffnungen und Pläne, schade.

Ganz anders die Szene, in der er oder sie nach einem tosenden Streit den Ring vom Finger zieht und ihn beim Hinausgehen bedeutungsvoll auf die Konsole unter dem Garderobenspiegel im Flur legt. Wir halten den Atem an. Knallt jetzt wirklich noch die Tür? Dann schrecken wir zusammen. Und auch, wenn sie sanft und leise zugezogen wird – macht uns das vielleicht sogar noch trauriger. Er ist weg. Der (oder die) Zurückgebliebene: Es genügt ein Blick in sein Gesicht.

Doch auch dieser Satz („Ich möchte die Verlobung lösen“) kann große Wirkungen entfalten. In welcher Situation wird er gesprochen, tonlos oder anklagend, durchbricht er Erwartungen, passt er nicht in die Szene des romantisch arrangierten Treffens, oder zeigt sich etwa, dass das Gegenüber längst damit gerechnet hat? Spannungen und Kontraste durch den Kontext können ihn lebendig machen.

In einem seiner ersten Jobs, noch vor seiner Regisseur-Karriere, musste Hitchcock ein Plakat entwerfen – für eine Firma, die elektrische Beleuchtungen für große Räume anbot. Es war die Zeit des Ersten Weltkriegs.

„Ich schrieb Kirchenbeleuchtung auf die Umschlagseite von Broschüren und zeichnete dazu zwei Kerzen“ erinnert er sich. „Das sollte suggerieren, dass Kerzen allein nicht ausreichten, um eine Kirche auszuleuchten.“ Das zeigte ironische Intelligenz. Und intelligent war auch die Einfachheit des Konzepts dahinter. Er demonstrierte, dass es nicht nötig war, elektrische Leitungen zu zeigen, um für sie Reklame zu machen.[1]

Bibliothek, Bücher, Lesung, Schule

Das ist noch ein weiterer Schritt: nicht zu zeigen, um etwas zu zeigen. Wir alle wissen, wie wirkungsvoll unser Gehirn sich Dinge ausmalt, die nur angedeutet werden – oder durch ihr Fehlen suggeriert. Dann sind wir nämlich mit in dem Prozess. Und die Worte angekommen.


[1] Donald Spoto: Alfred Hitchcock. Hamburg 1984

Renate Graßtat, März 2020

Fotos: Pixabay


Sie oder du – eine Annäherung

Im Netz poppte gestern ein Artikel auf, den ich für eine Glosse hielt.

„Entschuldigung, seit wann siezen wir uns?“, hieß es in der Überschrift.

Die Idee war wirklich gut: Rezo schrieb nämlich in seiner „Zeit“-Kolumne, dass es nachgerade unhöflich sei, jemanden auf Twitter zu siezen, statt das in sozialen Netzwerken übliche „Du“ zu benutzen. – Die Umkehrung des Gewohnten (hier: das Siezen als Unhöflichkeit, nicht das Duzen) ist immer ein guter Einstieg in einen Text. Nur merkte ich dann beim Weiterlesen nach der ersten Amüsiertheit: Das war gar keine Glosse. Das war alles ernst gemeint.

Wie kam er überhaupt darauf? Ein Twitter-User hatte sich dagegen verwahrt, von einer Politikerin geduzt zu werden, nachdem er sie mit „Sie“ angesprochen hatte. Er wurde daraufhin belehrt, das Duzen gehöre eben zu den Regeln der sozialen Netzwerke. Und die Zeit-Kolumne ging sogar noch weiter: Der Bruch der Regel, also hier das „Sie“ statt „du“, sei deshalb tendenziell respektlos.

Ich schwankte zwischen Überraschung und Aha-Effekt. Denn es ist ja wahr – wir müssen Veränderungen des Sprachgebrauchs zur Kenntnis nehmen und machen uns lächerlich, wenn wir auf etwas beharren, was in einem bestimmten Kontext nicht mehr gilt. Als Lehrerin auch für Deutsch kann ich so manches Lied davon singen.

Doch nicht alles hat mich überzeugt. Zum Beispiel, dass ein „Sie“ für Chefs eher eingefordert werde als für Arbeitnehmer_innen und daher ein Zeichen sozialer Ungleichheit sei, ein „verbliebenes Symbol der Macht“. Mein Umfeld bestätigt dieses nicht. Gelernt habe ich es so: Zwischen erwachsenen Menschen wird entweder auf beiden Seiten „du“ verwendet oder auf beiden Seiten „Sie“. Alles andere wäre in der Tat ein Startschuss für die Barrikaden. Trotzdem:

Dem Verfasser gebührt meine klammheimliche Anerkennung für die Konsequenz, mit der er etwas auf die Spitze treibt. Schließlich heißt seine Kolumne auch: „Rezo stört.“

Was mich dann jedoch zusammenzucken ließ, waren die vielen bitterbösen Reaktionen auf den Kommentar eines Lesers. Er hatte nämlich eingewandt, dass ihm gerade bei einer Schulung zur Kundengesprächsführung das Siezen eingetrichtert worden war. Alles andere sei eine grobe Unhöflichkeit. „Was denn nu?“, schloss er seinen kurzen Beitrag.

Ein wahrer Shitstorm prasselte auf ihn los – von einfachem Unverständnis, dem Vorwurf des Hinterwäldlertums bis hin zu dem Vorschlag, den Schulungs-Anbieter zu wechseln, wenn der derart merkwürdige Äußerungen von sich gebe.

Halt, halt, halt! Die Welt besteht doch nicht nur aus Facebook, Twitter, Fernsehshows und coolen Start-Ups! Natürlich müssen wir uns bei Geschäftspartnern und ganz allgemein im Kundenkontakt, genauso wie bei Bewerbungsgesprächen, auf das Gegenüber einstellen. (Sagt übrigens Rezo auch.) In einer Yoga-Gruppe sieht es anders aus als im Kontakt zur Telekom. Wer bei Siemens beim ersten Besuch die Personalverantwortlichen oder auch die Empfangs- oder Büro-Mitarbeitenden kumpelhaft mit „du“ begrüßt, wird schneller wieder draußen sein, als er „papp“ sagen kann.

Und wenn ich eine Werbe-Mail von mir unbekannten Menschen aus einem Unternehmen bekomme, die mit „Hallo Renate“ oder „Hol dir dein neues Dingsda“ beginnt, ist sie im Nullkommanichts wieder weggeklickt, und auch die Chance, dass ich dort jemals etwas kaufen werde, geht steil gegen Null.

Warum ist das so?

Weil wir eben keine Kumpels sind. Weil ich mich – ja, doch! – in meiner Privatsphäre verletzt fühle, die ich auf Twitter oder bei „Deutschland sucht den Superstar“ bewusst auf die ganze Welt ausdehnen würde. Tue ich das etwa schon, wenn ich meine E-Mails öffne? Ich würde sagen nein. – Und weil das „Sie“ gegenüber Unbekannten heutzutage keineswegs mehr Unterwürfigkeit bezeugt, sondern eine vorsichtige, im besten Fall respektvolle Distanz bedeuten würde, die ich mir hier wünsche – eine Distanz, die sagen will: Ich weiß noch nicht, wer diese andere Person ist, welchen Konventionen sie folgt und wie sie gerne angesprochen wird. Zum Du wechseln lässt sich leicht; umgekehrt hat es einen herben Stich.

Auch wenn das nicht für Twitter gilt.

 „Mann, det geht mir total auf`n Geist, dieset ewige `Du`“, hörte ich die Frau bei IKEA auf der Toilette über die oben offene Kabinentür hinweg zu ihrer Freundin grölen, als gerade eine der typischen Ansagen („Hol dir die …“ oder etwas in der Art) durch die Lautsprecher ertönt war.  Abgesehen von der Situationskomik, die dieser Moment zweifellos an sich hatte, konnte ich sie in ihrer beherzten Berliner Ehrlichkeit – obwohl gerade die vor dem schnellen „Du“ auch nicht zurückschreckt – irgendwie verstehen. Tatsächlich erwarten wir in großen Firmen eigentlich ein „Sie“ vom Management. Und das Verrückte ist: Ginge man nach einer solchen Ansage, in der wir Kund_innen alle ausnahmslos geduzt werden, dann tatsächlich zum Verkäufer und würde ihn mit „du“ anreden, wäre dieser sicher irritiert.

Ist „Du“ vielleicht das Machtsymbol??

Aber nein – IKEA tut dies mit dem Schweden-Bonus. Das ist der gleiche Bonus, mit dem es möglich ist, eine ganz und gar undeutsche Leichtigkeit von Möbeln (und deren Zusammenbau) zu suggerieren, Preise relativ klein zu halten, Köttbullar und überhaupt Unkompliziertes zu essen anzubieten und Bilder von schwedischen Landschaften und heimeligen Wohnzimmern zu erzeugen. Noch schnell Preiselbeeren und Knäckebrot vor dem Auschecken. Das ist „niedlich“, wie ein Småland für Erwachsene, und ein Zeichen kultureller Identität. Aber wer sich einen Rest Distanz erhält, kann sehen, dass es sich auch um eine Image- und Verkaufsstrategie handelt.

Auf der anderen Seite erinnere ich mich lebhaft an ein Treffen mit dem neuen schwedischen Vorstandsmitglied einer großen Firma, den ich zur Planung eines Deutschkurses treffen sollte. Es war sein erster Tag zur Eingewöhnung. Inmitten einer Traube von beflissenen Beratern und ernst dreinblickenden Bürokraten in steifen Anzügen kam er wie der einzige Mensch unter Aliens auf mich zu, streckte mir die Hand entgegen und sagte sehr freundlich und ein wenig forsch: „Hey! Ich bin Torsten.“ Ich hörte praktisch, wie alle die Luft einsogen, und der Herr neben ihm mit den sehr offiziell wirkenden Dokumenten unter dem Arm sah aus, als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Torsten hatte meine volle Sympathie. Trotzdem nahm ich ihn danach zur Seite.

Meinen (Deutsch-)Kursteilnehmenden aus aller Welt erkläre ich es immer so:

Grundsätzlich gilt: Wen ich nicht kenne, sieze ich. Wenn ich in ein Büro, ein „normales“ Geschäft, zu einer Institution gehe also. Das gilt besonders natürlich für die Polizei und andere Vertreter_innen der Öffentlichkeit. Allerdings ist die Variante eines meiner Schüler, eines jungen Ägypters, dessen deutsche Freundin immer von den „Bullen“ sprach, nicht zur Nachahmung empfohlen: „Entschuldigen Sie, Herr Bulle“, sagte er zu einem Ordnungshüter und erntete zum Glück nur ein Grinsen statt einer Strafe für Beleidigung. (Immerhin hat er wenigstens gesiezt …)

Unter Mitstudierenden, in Clubs, Cafés und Läden, in denen hauptsächlich junge und/oder unkonventionell wirkende Menschen verkehren, wird geduzt – und da spätestens wird es schwammig. Wonach soll man das beurteilen??

Ich blicke also in verzweifelte Gesichter. Einige von ihnen kommen aus Ländern, in denen es „Sie“ überhaupt nicht gibt, andere haben deutlich strengere Regeln als wir. Die meisten sind mit der richtigen Anredeform heillos überfordert. Die Bewältigungsstrategien sind dann verschieden: Menschen aus Dänemark und den USA – zum Beispiel – neigen dazu, das „Sie“ als theoretisches Konstrukt einer viel zu verschrobenen und einfach unnötigen Eigenart der Sprache bzw. eines ganzen Volkes irgendwo links hinten im Gehirn abzulegen – und nie wieder hervorzuholen. Kommen sie aus Russland oder Südkorea – zum Beispiel – bringen sie es nicht übers Herz, selbst in einem locker gestalteten Sommerkurs die Dozierenden, mit denen sie Exkursionen machen und etwas trinken gehen, zu duzen. Nein, das ginge einfach nicht!  Auch die Kommiliton_innen  werden konsequent gesiezt: „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! – Haben Sie Fragen?“

Mein bester Tipp: Darauf zu achten, wie sich andere an einem Ort verhalten, und es ihnen gleichzutun. Bin ich in einem Hipster-Café oder einfach nur in einem Laden, wo es teuer ist? Gar nicht so leicht zu entscheiden. Im einen ist das „Sie“ gestelzt, „du“ aufdringlich im anderen – Anpassung also sinnvoll. Womit ich mich dann wieder in trauter Eintracht mit Rezo befinde, denn eine Abweichung käme mir in beiden Fällen unhöflich vor. Kontext ist das Schlüsselwort.

Genau das ist es auch, was ich jeden Tag von meinen Studierenden lernen kann: Es gibt immer mehr als nur eine Perspektive auf sprachliche, kulturelle und auch individuelle Phänomene. Deshalb reichen Erklärungen oft nicht aus – ganz abgesehen von der ständigen Konzentration, die ihre durchgängige Beachtung erfordern würde. Ganze Wände meines Arbeitszimmers könnte ich mit E-Mails füllen, die beginnen mit „Sehr geehrte Frau Professor[1], vielen Dank für deine Mail“, und die akademische Leiterin einer Abteilung wird geduzt, weil ihr Vorname zusammen mit dem Familiennamen an der Tür steht. Ist das etwa nicht ein klares Zeichen??

So kommt es durch Diversität doch manches Mal zu Missverständnissen, von denen viele ihre eigene Logik haben – nicht immer von der Hand zu weisen. Und am Ende kann man drüber lachen. Ist das nicht eigentlich großartig?

Ich stelle fest: Bis jetzt haben wir niemanden der groben Unhöflichkeit überführt – weder Herrn „Sie“ noch den Kollegen „Du“.

Seit wann ich euch also sieze? Ich sieze auf meiner Webseite, weil dies für mich vorsichtigen Respekt bedeutet, und aus Unkenntnis darüber, wie Sie am liebsten angesprochen werden. Über E-Mails, in denen „du“ benutzt wird, freue ich mich aber sehr.


[1] „Professor“ ist in vielen Ländern keine akademische Position, sondern einfach nur eine generelle Anrede für Lehrende/Dozierende.

Renate Graßtat, Februar 2020

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